Kapital und Ideologie by Thomas Piketty

Kapital und Ideologie by Thomas Piketty

Autor:Thomas Piketty
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Wirtschaft: Allgemeines, Nachschlagewerke
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2020-02-02T16:00:00+00:00


Ungleicher Zugang zu Bildung in Europa und in den Vereinigten Staaten

Wir haben gesehen, dass die Ungleichheiten beim Zugang zu Bildung in den Vereinigten Staaten besonders groß sind. Aber auch in Europa sind sie erheblich. Allgemein gilt, dass sich in allen Ländern der Welt die offizielle Rhetorik über Chancengleichheit, das «meritokratische» Ideal etc. sehr von den realen Ungleichheiten unterscheidet, die die verschiedenen sozialen Gruppen beim Zugang zu Bildung erleben. Kein Land ist in der Position, den anderen bei diesem Thema Lehren erteilen zu können. Vor allem ist hervorzuheben, dass der Übergang zur Hochschulbildung eine große Herausforderung für die Idee der Bildungsgerechtigkeit darstellt.

Im Zeitalter der primären und sekundären Bildung bestand eine einigermaßen ausgeglichene Situation: Man musste einen ganzen Jahrgang bis zum Ende der Grundschulzeit führen und dann bis zum Ende der Sekundarstufe mit dem Ziel, dass alle Kinder ungefähr die gleichen Grundkenntnisse erwarben. Als die Hochschulbildung an Bedeutung gewann, wurde das Bild deutlich komplizierter. Abgesehen davon, dass es nicht sehr realistisch erscheint, dass ein ganzer Jahrgang bis zur Promotion gelangt, zumindest nicht in der nächsten Zukunft, gibt es natürlich viele verschiedene Wege der akademischen Bildung. Diese Vielfalt spiegelt zum Teil die legitimen Unterschiede der Wissensbereiche und der individuellen Ziele wider, aber es gibt auch die Tendenz zu einer hierarchischen Ordnung und einen großen Einfluss auf die künftige gesellschaftliche und berufliche Hierarchie. Anders gesagt: Der Eintritt ins Zeitalter des massenhaften Hochschulbesuchs stellt eine ganz neue politische und ideologische Herausforderung dar. Es wird unvermeidlich, auf Dauer eine Form von Bildungsungleichheit zu akzeptieren, insbesondere zwischen Personen, die mehr oder weniger lange studiert haben. Das muss uns nicht hindern, über neue Formen von Gerechtigkeit bei der Verteilung von Ressourcen und neue Regeln für den Zugang zu unterschiedlichen Bildungswegen nachzudenken. Aber die Aufgabe ist komplexer, als im Primär- und Sekundarbereich für absolute Gleichheit zu sorgen.[100]

Im vierten Teil des Buchs werden wir sehen, dass diese neue Herausforderung in der Bildung ganz wesentlich dazu beigetragen hat, dass die «sozialdemokratische» Wählerkoalition der Nachkriegszeit zerbrochen ist. In den Jahren 1950–1970 erreichten die verschiedenen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in Europa ebenso wie die Demokratische Partei in den Vereinigten Staaten ihre besten Ergebnisse bei Wählern mit niedrigeren Bildungsabschlüssen. In den Jahren 1980–2010 hat sich das vollkommen umgekehrt, und diese Parteien schneiden inzwischen bei den Wählern mit den höchsten Bildungsabschlüssen am besten ab. Ein Teil der Erklärung, auf den wir noch detaillierter zurückkommen werden, sind natürlich die politischen Entscheidungen, die diese Parteien umgesetzt haben. Die Wähler haben immer stärker den Eindruck, dass sie vor allem die Gewinner des Wettbewerbs in Gesellschaft und Bildung begünstigen.[101]

Halten wir an diesem Punkt einfach fest, dass die Bildungssysteme der europäischen Länder zwar insgesamt egalitärer sind als das Bildungssystem der Vereinigten Staaten, dass aber auch diese Länder Probleme haben, mit der Herausforderung durch die Bildungsexpansion in den letzten Jahrzehnten fertigzuwerden. Vor allem der Blick auf die staatlichen Ausgaben für Bildung ist frappierend. Nachdem sie im 20. Jahrhundert beträchtlich gestiegen sind, von knapp 1–2 % des Nationaleinkommens in der Zeit von 1870 bis 1910 auf 5–6 % in den 1980er Jahren, stagnieren sie seither.



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